Der Zorn der Zopetscharte - Flucht vor dem Gewitter

Flucht vor dem Gewitter

Es hat nun schon einige Minuten nicht mehr geblitzt, also beschließe ich, die Eisseehütte links liegen zu lassen und gleich abzusteigen. Mir ist die Vorstellung unangenehm, jetzt womöglich stundenlang in der Hütte sitzen zu müssen, um dann doch durch den Regen abzusteigen. Dann doch lieber zur Bodenalm, denn dort könnte mich zur Not jemand mit dem Auto abholen.

Der Weg auf der Steilstufe unterhalb der Eisseehütte ist aufgeweicht und gefährlich. Leicht rutscht man von den glatten Steinen ab oder versinkt im weichen Untergrund. Aber ich kann jetzt natürlich wieder beide Stöcke einsetzen und bin mit meinem Marschtempo recht zufrieden. Die Regenhose ist bis über die Knie mit braunem Schmutz bespritzt.

Das Gewitter hat nur eine Pause gemacht! Jetzt blitzt und kracht es in Minutenabständen. Ich denke aber nicht daran, zur Hütte aufzusteigen, auch wenn das Ganze unangenehm nah ist.

In rekordverdächtiger Zeit habe ich die Steilstufe hinter mich gebracht und renne nun fast den ziemlich ebenen Teil bis zur Wallhorn Alm. Ich überhole über ein Dutzend Leute, die in Ponchos und Pelerinen der Bodenalm zustreben. «Schön!», denke ich, «die nehmen mir keinen Platz weg!»

Nach der Wallhorn-Alm geht es noch einmal leicht nach oben über die Flanke des Kendele. Das ist mir ein bisschen unangenehm, denn auf dem Felsrücken gebe ich ein gutes Ziel ab.

Schräg hinter mir tobt das näher kommende Gewitter. So langsam geht mir auch die Puste aus, denn die letzten anderthalb Stunden haben viel Kraft gekostet. Ich bleibe zwei Minuten stehen bis sich der Puls beruhigt hat. Ich mache mir klar, dass ich jetzt gerade einmal drei bis vier Minuten ein bisschen «im Freien» gehen muss, das wird schon klappen. Die Wahrscheinlichkeit, dass gerade in diesen Minuten der Blitz ausgerechnet am Kendele einschlägt, halte ich für gering.

Mit leicht gesträubten Nackenhaaren renne ich los. Natürlich kracht es genau in dem Augenblick, als ich mich mit einem verklemmten Viehgatter herumärgere. «Keep cool!» sage ich laut, denn der Einschlag war fast einen Kilometer weit entfernt. Ein weiterer Blitz – etwas näher, aber noch immer nicht beängstigend.

Bei der Felsnase am Kendele bleibe ich tatsächlich noch einen Augenblick stehen und blicke Richtung Timmeltal zurück. Schwarz und wild wälzen sich die Wolken von den Berghängen, und jetzt sehe ich auch endlich einmal zwei wunderschöne Blitze oben in die Felsen zucken.

Ich muss los. Allmählich bin ich ziemlich erschöpft, aber bis zur Bodenalm sind es jetzt nur noch knappe zehn Minuten. Ich stolpere den letzten Teil des Weges hinunter, und finde dann endlich unter dem Giebelvorbau der Jausenstation gnädigen Schutz vor dem prasselnden Regen.

Versöhnlicher Ausklang

Ich bleibe erst einmal draußen, in der warmen Gaststube würde mein Kreislauf jetzt nicht mitspielen. Nachdem ich die Regensachen ausgezogen habe, puhle ich erst einmal das Handy aus dem Plastiksack. Meine Frau ist nun doch sehr beruhigt, denn sie hatte inzwischen erfahren, dass im Timmeltal ein fürchterliches Gewitter niedergegangen war. «Stimmt!», meine ich und muss vor Erleichterung lachen. «Ich gehe jetzt erst einmal in die Gaststube, denn es kommen noch mindestens siebzehn Leute nach mir, und vor denen möchte ich jetzt erst einmal einen Obstler und ein Weißbier!»

Ich ziehe mich schnell um, betrete die geheizte Stube und bekomme das Gewünschte. Vor Erschöpfung kriege ich das Bier fast nicht hinunter – an Essen ist überhaupt nicht zu denken.

Am Nebentisch besprechen Einheimische die Wettersituation und geben einer Gruppe von Bergsteigern, die eigentlich zur Eisseehütte aufsteigen wollen, gute aber auch sinnlose Ratschläge. Man ist sich nicht einig, die Prognosen reichen vom frühen Wintereinbruch bis zum matten Sommergewitter. Fast artet die Fachsimpelei in Streit aus, was aber sicher daran liegt, dass die Bauern und Almarbeiter bei ihrem Zwangsaufenthalt in der Gaststube ein wenig zu sehr den brennbaren Hausgeistern zugesprochen haben.

Eine Stunde später laufe ich über den Wiesachweg nach Bichl und Hinterbichl hinunter – bei strahlendem Sonnenschein! Nein, denke ich beim Abstieg, den Wetterprognosen der Einheimischen traue ich so schnell nicht mehr.


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