Tulpspitze - Etwas Adrenalin, etwas luftig!

Der Weg über die Nordflanke der Kreuzspitze ist im Gegensatz zu früheren Jahren jetzt wieder deutlicher zu sehen. Frische rote Farbkleckse markieren den rutschigen Steig über den ausgedehnten dunklen Schutthang. Es geht steil hinab, manchmal sehr «geradeaus», oft aber auch in engen Serpentinen, die das Gefälle abschwächen.

Auf halbem Weg zur Tulpscharte begegne ich einem älteren Herrn im Aufstieg. Mein Ding wäre das nicht, der Weg ist schon abwärts schlimm genug…

In der Tulpscharte habe ich noch einmal Zeit, etwas in mich hineinzuhorchen. Vor mir strebt der dunkle, felsige Zacken der Tulpspitze in den Himmel. «Sieht gar nicht so schlimm aus!» sage ich mir. Nach der anstrengenden Überschreitung der Kreuzspitze sollten die paar Höhenmeter doch auch noch gehen!

Ich mache eine kleine Pause, setze den Rucksack ab und kämpfe mit der Versuchung, jetzt einfach zur Johannishütte abzusteigen. Diesen Weg habe ich schon gemacht, und eigentlich bin ich heute an meinem letzten Urlaubstag hier, um ein neues Ziel zu erreichen. Es ist erst halb zwei: der Nachmittag ist noch lang – ich darf mir also Zeit lassen!

Eine halbe Stunde brauche ich, um den Gipfel der Tulpspitze zu erreichen. Der Steig ist einfach und gut, allerdings nicht immer auf den ersten Blick zu sehen. An einigen Stellen muss man zwar die Hände zur Hilfe nehmen, aber ich empfinde den kurzen Aufstieg als problemlos.

Nun – auf dem Gipfel mit dem unscheinbaren Steinmann – klingen mir die Worte im Ohr, die ich vor ein paar Tagen beim Abendessen von einem Einheimischen gehört habe. Die Tulpspitze sei ein Bisschen gefährlich und vor nicht allzu langer Zeit sei ein sehr erfahrener Bergsteiger dort abgestürzt. Man habe jetzt auch ein paar neue Seile verspannt – das lockere Gestein sei nicht zu unterschätzen.

Ich blicke zur Zopetscharte hinüber und verstehe die zur Vorsicht ermahnenden Sätze. Mich erwartet ein Abstieg, der es in sich hat. Den Hang zum Timmeltal hinab kann man als ausgesetzt bezeichnen, und der durch die verspannten Seile markierte Steig führt um einige Felsnasen, die es in sich haben. Aber schon nach wenigen Metern entzieht sich die Route dem Blick: hinter einem scharfen Felszacken scheint es noch steiler nach unten zu gehen.

Ich starre mehrere Minuten auf diese Stelle, hinter der sich das Seil verliert. Ich bin unschlüssig und fühle mich ein wenig mulmig. Jetzt hätte ich gern einen Partner dabei, der beim Abklettern unterstützen könnte. Egal! Ich stehe auf und schüttele mir die Trägheit aus den Knochen, schultere den Rucksack, nachdem ich alles gut nachgezurrt habe und auch die Kamera im Inneren verstaut habe. Ich kann jetzt nichts Herumbaumelndes gebrauchen.

Die ersten Meter kann ich noch aufrecht gehend zurücklegen, dann geht es steiler nach unten. «Lockeres Gestein!» hämmere ich mir ein und setze im Absteigen jeden Tritt erst einmal vorsichtig an, bevor ich mein gesamtes Gewicht auf auf den Fuß bringe. Langsam, sehr langsam komme ich voran. Mit den gut ausgelegten Sicherungsseilen habe ich allerdings meine Probleme. Zum Festhalten will ich sie nicht gebrauchen: ein Seil ist halt immer wackeliger als ein guter Griff im Felsen. Allenfalls die Verankerungsstifte bieten gelegentlich einen bequemen Haltepunkt, aber ansonsten habe ich den Eindruck, dass mir die Seile eher im Weg sind und mich behindern. An einer besonders unbequemen Stelle beschließe ich, die Seilführung zu kreuzen. Zum Übersteigen steht das Seil jedoch zu weit vom Felsen ab, also krieche ich vorsichtig unter ihm durch.

Und natürlich bleibt dabei die Spitze eines Teleskopstocks am Seil hängen. Ich muss mich in geduckter «Käferhaltung» ziemlich verrenken, um das Gehakele loszuwerden ohne in einen unsicheren Stand zu geraten. Immer wieder schlägt das straffe Seil auf den Rucksack zurück, aber nach dem dritten oder vierten Versuch bin ich endlich durch. Leider scheine ich vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Auf dieser Seite der Seilführung ist der steile Hang deutlich problematischer! Ich stehe auf einem Felsblock, und vor dem nach unten weiterführenden Steig muss eine etwa anderthalb Meter tiefe Steilstufe überwunden werden.

Ich werde unsicher und spiele mit dem Gedanken, wieder auf die andere Seite des Seils zu kriechen. Aber dort hat mir der Hang nicht gefallen, also überlege ich, wie ich dieses Steilstück überwinde. Unangenehm ist, dass unterhalb des ziemlich glatten, senkrechten Stücks nur eine blanke, offensichtlich nicht sehr fest aufliegende Steinplatte liegt. «Lockeres Gestein!» sage ich mir wieder und bemerke mit leichtem Bauchgrimmen, dass es rechts neben der Platte ziemlich steil ins Timmeltal hinab geht. Auf der einen Seite des Steilstücks gibt es aber einen schmalen Riss und auf der anderen Seite in halber Höhe eine kleine Griffmöglichkeit im Felsen. «Sieht stabil aus», sage ich mir und «berechne», ob ich es schaffen könnte, mit meinen langen Extremitäten diesen Spagat zu schaffen. Mir ist klar, dass es auf halbem Weg kein Zurück gäbe: mit so weit ausgespannten Gliedern würde ich mich unmöglich wieder hochziehen können.

Ich gestatte mir keine weiteren Grübeleien und beginne, mich abzulassen. Der rechte Fuß setzt am Riss an, uns so weit es nur irgendwie geht ohne den Halt mit den Armen zu verlieren, rutsche ich mit dem Fuß nach unten und klemme ihn dann fest. Ein Großteil meines Gewichts ruht nun sicher auf dem rechten Bein, und sofort breitet sich eine wohlige Entspannung in meinen Armen aus, die nun keine 95 kg mehr halten müssen. Ich stehe sicher – unangenehm ist nur, dass mein linkes Bein untätig vor der glatten Felsnase in der Luft baumelt. An einer anderen Stelle wäre ich sicher einfach den halben Meter nach unten gesprungen, aber ich traue dieser Steinplatte nicht! Zu viel Zeit möchte ich jetzt auch nicht mehr vergeuden, denn ich spüre allmählich die Belastung im rechten Bein.

Links habe ich ja schon vorher die Griffmöglichkeit auf halber Höhe gesehen. Dahin müsste jetzt meine linke Hand, aber ich habe etwas Bammel davor, auch für kurze Zeit die Dreipunktregel zu verletzen. Aber mit dem linken Bein kann ich im Augenblick wirklich nichts ausrichten! «Scheiße!» schnaufe ich, lasse die Hand los und bin einen Wimpernschlag später links in der Stütze. Mit der Rechten fahre ich einen halben Meter im Riss nach, biege den Stützgriff etwas ein, rutsche mit dem Fuß im Riss auf den nächsten Tritt und spüre endlich mit der linken Stiefelspitze Boden unter mir.

Langsam belaste ich das linke Bein, und tatsächlich: die Platte wackelt! Nicht stark, aber aus dem Gleichgewicht könnte sie einen bringen. Ich lasse mich weiter vorsichtig ab, greife im Riss nach und nehme dann schnell den Fuß aus dem Riss, um ihn neben der Platte auf einen zuverlässig aussehenden Stein zu setzen.

Der angespannte Atem fliegt aus mir heraus, das Adrenalin verflüchtigt sich und macht anderen Hormonen Platz. Ich brauche wohl fünf Minuten, um mich wieder einigermaßen zu fühlen und gestehe mir zu, dass ich schon seit langem nicht mehr so ein Muffensausen hatte! «Hoffentlich geht’s nun anständig weiter!» wünsche ich mir, denn zur Zopetscharte hinunter ist es noch ein gewaltiges Stück, und ich habe den Eindruck, gerade viel Zeit verloren zu haben.


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