Nach dem Rainer Törl fällt plötzlich ein unangenehm eisiger Wind über uns her, und ich muss die Kapuze überstreifen. Wie angenehm sind jetzt die winddichte Jacke und die dicken Handschuhe! Zwar hat das anstrengende Gehen mich innerlich durch und durch aufgeheizt, aber im Gesicht wird es nun doch beißend kalt. Wir machen eine kurze Rast zum Verschnaufen, dann überwinden wir das letzte, sehr steile Stück vor dem Gipfel.
So langsam macht sich bei mir die Höhe bemerkbar, aber ich glaube, nicht nur ich schnaufe hier wie eine altersschwache Dampflok. Die Wolkendecke reißt jetzt immer weiter auf. Jeder von uns möchte auf dem Gipfel sein, bevor sich das Grau wieder vor die Sonne schiebt. Wir sind fast oben, da steht der Seilschaft eine kleine Mutprobe bevor. Den Gipfel erreicht man über einen kurzen Grat, neben dem beidseitig der Abgrund gähnt. In diesem Jahr sei der Grat sehr schmal, meint Erwin. Und weist noch schnell darauf hin, dass bei einem eventuellen Sturz der Hintermann «nur auf die andere Seite springen» müsse. Ich denke nicht lange über diesen erfrischenden Ratschlag nach, sondern folge dem Bergführer und bemühe mich, auf dem kurzen Stück wenigstens ein paar flüchtige Blicke in den Abgrund zu werfen. Es geht schon deftig hinab, aber mir macht das nichts aus. Leider bleibt wenig Zeit zum Herumgucken, denn meine Aufmerksamkeit gilt dem äußerst schmalen Weg. Und ehe ich es mich versehe, stehe ich schon neben dem Gipfelkreuz.
«Auf keinen Fall aus dem Seil klinken!» ermahnt uns der Bergführer und gibt sich Mühe, die Gruppe so anzuordnen, dass möglichst wenig Durcheinander in das Seil kommt. Natürlich ist es recht voll auf dem Gipfel. Wie auf Bestellung reißen die Wolken jetzt auf und geben das beeindruckende Panorama frei – wenigstens in großen Teilen. Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, lachen, schnaufen und freuen uns. Erwin sammelt die Fotoapparate ein, springt behände ein paar Schritte auf dem Schneefeld nach unten und schießt in schneller Folge ein paar Gipfelfotos.
Noch ein paar Genussblicke ringsumher, ein gemeinsamer Gipfelschnaps aus irgendeiner mit hinaufgetragenen Flasche – dann heißt es schon wieder Abschied nehmen. Vor dem Gipfelgrat warten schon die anderen Seilschaften, die wir während des Aufstiegs überholt haben. Erwin klinkt sich wieder ans Seil, und wenige Minuten später stehen wir auf der weiten Gletscherfläche vor dem Gipfelgrat und machen eine etwas längere Rast.
Jetzt ist Zeit für eine kleine Stärkung und ein paar Gespräche. Jeder schießt seine Fotos und genießt noch einmal das überwältigende Panorama. Nach Süden hin folgt Bergkette auf Bergkette, und irgendwo hinten im Dunst müssen die Alpen zuende sein, muss irgendwo das Mittelmeer liegen. Ich schalte ein wenig ab, die Fachsimpelei der anderen dringt nicht mehr an mein Ohr. Ich will einfach nur genießen, will den Lohn für die letzten zweieinhalb Stunden Anstrengung. Den Großglockner erkenne ich, auch den massiven Bergstock des Dachsteins. Berge, die vom Tal aus als unbezwingbare Riesen erscheinen, liegen nun unter mir und wirken harmlos. Nichts mehr über mir – unbeschreiblich! Ich lasse meinen Blick ganz langsam von links nach rechts über den Horizont gleiten und sehe nun ganz deutlich, wie die Welt nach allen Seiten hin abzufallen scheint. Mag es Sinnestäuschung oder Einbildung sein, aber ich habe wirklich den Eindruck, auf einer riesengroßen Kugel zu stehen.
Der schneidende Wind lässt keine Gemütlichkeit aufkommen, außerdem finden sich jetzt immer mehr Seilschaften an diesem Platz ein. Erwin fachsimpelt mit Bergführerkollegen, und als wir dann aufbrechen, teilt er uns mit, dass wir eine neue Spur treten, weil unser Aufstiegsweg wegen der Wärme und der Sonne inzwischen zu sulzig geworden ist, und dort auch den Schneebrücken über die Gletscherspalten nicht mehr zu trauen ist. Wir stapfen los. Es ist deutlich wärmer geworden, und wir treten bei jedem Schritt recht tief in den unberührten Schnee ein. Mit der Wärme kommt die Nässe, und ich bin froh, dass die Gamaschen das Eindringen von Feuchtigkeit verhindern.
Vorn geht Erwin äußerst konzentriert, ändert gelegentlich scheinbar unmotiviert die Richtung, und ab und zu meine ich auch, etwas dunklere Stellen im Schnee als Gletscherspalten zu identifizieren. «Diese Spalten sehen doch recht harmlos aus», sagt Erwin, «aber oft hat es unter diesen schmalen Spalten tiefe Höhlen, in die ganze Kirchen ‚reinpassen! Aber keine Angst, ich bin ja nicht zum ersten Mal hier oben!» Wir halten uns während der ganzen Zeit relativ hoch und streben mehr dem Rainer Horn zu, um den Gletscher möglichst weit oben zu überwinden. Mehrfach bleibt unser Bergführer stehen, stößt prüfend den Teleskopstock in den Schnee und lässt uns dann auch gelegentlich einen sehr großen Schritt machen. Einmal halten wir vor einer sehr schmalen Schneebrücke, die wenig Vertrauen weckt; links und rechts geht es zwar schmal, aber offensichtlich sehr tief ins Dunkel hinab. Für einen Sprung ist die Spalte aber zu breit, zumal der Schnee an beiden Seiten deutlich überhängt. Ich straffe das Seil, und Erwin passiert die Brücke. Kein Problem!
Nach dem doch recht anstrengenden weglosen Abstieg treffen wir auf die Stelle, wo wir am Morgen unsere Tour begonnen haben. Noch ein paar Schritte auf dem flachen Gletscher, ein kurzer Anstieg zu der schmalen Scharte oberhalb des Defreggerhauses – dann ist unser Venedigerabenteuer zuende.
In der Hütte sitzen wir dann eine Weile gemütlich beisammen, bekommen den Venedigerstempel ins Tourenbuch oder auf die Wanderkarte, spendieren uns noch gegenseitig einen oder zwei Obstler und schwärmen uns schon mal ein bisschen von den Eindrücken vor. Aber irgendwie befinde ich mich noch wie in einem Traum: Das meiste, was ich gesehen habe, wird erst am Abend wieder vor meinen Augen stehen. Unten warten ja die anderen Hausgäste, und wir werden sicherlich mehr als einmal erzählen müssen. Noch sind es ja über 1.600 Höhenmeter bis ins Tal hinunter, aber den anstrengenden Abstieg spüre ich kaum. Ich schenke dem Weg gerade soviel Aufmerksamkeit, wie nötig ist, und hänge beim lockeren Hinunterstapfen schweigend und intensiv meinen Erlebnissen nach. Ich bin froh, dass ich endlich oben war und begreife überhaupt nicht, warum ich mir dieses Vergnügen so lange vorenthalten habe.