Auf den Großvenediger - Teil 2

Auf dem Gletscher

Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Ein Kollege schnarcht sich durch mehrere Hektar Wald, und lange Zeit knarrt der Flur unter dem Getrappel der vielen Hüttengäste. Das Bett ist für meine fast zwei Meter Körpergröße natürlich zu kurz, aber wenigstens ist es nicht zu kalt, obwohl das Fenster sperrangelweit offen steht. Nach mehreren Stunden unbefriedigenden Halbschlafes reicht es mir. Ich stehe gegen halb fünf Uhr auf und schleiche mich vorsichtig in den Waschraum, wo ich ein paar Gestalten treffe, die genauso übernächtigt aussehen wie ich. Meine Freunde sind schnell geweckt und steigen auch ohne Murren aus dem Bett. Schon stehen wir an der Frühstücksausgabe, und obwohl an diesem Morgen die Hütte immer noch überfüllt sein muss, ist es jetzt deutlich weniger hektisch als am Abend vorher. Trotzdem muss ich mir Mühe geben, das Frühstück zu verzehren, irgendetwas ist mir auf den Magen geschlagen, und ich fühle mich ziemlich elend. Aber kaum habe ich meine Siebensachen wieder gepackt, schweres und überflüssiges Zeug aus dem Rucksack gezerrt und im Vorraum verstaut, steht unsere komplette Seilschaft schon vor der Hütte erwartungsvoll in der Kälte.

Bergführer Erwin lässt uns das Gurtzeug anziehen, schultert das Seil, dann geht’s erst einmal ein paar Dutzend Meter bis zum Gletschereinstieg hinauf. Nun müssen wir uns anseilen. Der Bergführer teilt uns ein und gibt uns ein paar Hinweise für die Gletscherbegehung. Ich soll direkt hinter ihm gehen. Als er mir sagt, dass ich ihn sichern müsse, falls er in eine Spalte einbreche, weiß ich nicht, ob ich das für einen Vertrauensvorschuss halten oder eher mit gemischten Gefühlen aufnehmen soll. «Nur schön das Seil straff halten», sagt Erwin – und dann stehen wir nach einem kurzen Abklettern auch schon auf dem Gletscher.

So früh am Morgen ist der Weg noch leicht zu gehen. Der Schnee ist gefroren und knirscht unter jedem Schritt. Aber es ist richtiger Schnee. Nur an ganz wenigen Stellen tritt blankes Eis zutage. Die ersten paarhundert Meter auf dem Rainer Kees erweisen sich als relativ gemütlich, es geht nur ganz sanft bergan, so dass man allmählich warm werden kann. Bald zeigen sich die ersten Spalten. Die kleineren fallen nur durch eine dunkle Färbung des darüber liegenden Schnees auf, größere treten deutlich als dunkle Schluchten zutage. Gelegentlich hält der Bergführer inne, prüft den Untergrund, und ich ahne, dass wir mehr als einmal Spalten überschritten haben, ohne es gewusst zu haben.

Dann bleibt Erwin stehen – alle anderen natürlich auch. Vor uns gähnt der dunkle Abgrund einer etwa 80 Zentimeter breiten Spalte. «Seil straffen!», ruft Erwin, und hat das Hindernis im Nu mit einem leichten Sprung überwunden. Er geht ein Stück weiter, stets das Seil zu mir hin straffend. Ich stehe direkt am Rand, schaue gar nicht weiter in die Tiefe, setze meine Stöcke auf der anderen Seite fest auf und springe. Plötzlich bremst mich unsanft etwas von hinten! Mein Seilnachfolger hat die Anweisung «Straffen» wohl etwas zu penibel ausgelegt. Meine Stöcke rutschen seitlich weg – und ich hänge wie ein plattgetretener Schmetterling halb über, halb in der Spalte. Mein linker Fuß liegt mit der Spitze noch auf, beide Hände krallen sich in den gefrorenen Schnee, das rechte Bein pendelt unten irgendwo in der Luft. Von der Schulter saust die Videokamera herunter und schlägt mir vorn heftig gegen edle Teile. «Mist, verflixter!» Ich merke aber sofort, dass nichts passieren kann, denn schon zieht Erwin nach vorne. Ich drücke ein wenig mit beiden Armen nach und stehe auf. Leicht erbost drehe ich mich nach hinten um und will losschimpfen, doch der Bergführer kommt mir ganz ruhig zuvor: «Straff halten, aber nicht bremsen!». Ich bin immer noch ein wenig sauer, aber nachdem mein Seilnachfolger zu mir aufgeschlossen hat, sehe ich sein erschrockenes Gesicht und den Ausdruck des Bedauerns darin – und ich muss einfach lachen. Alle anderen überwinden diese Stelle problemlos – und weiter geht’s.

Es wird nun ein wenig anstrengender – die Steigung nimmt zu. Trotzdem legen wir alle ein passables Tempo vor und überholen einige Seilschaften, die vor uns am Defreggerhaus aufgebrochen sind. Aber irgendwie müssen mir das Essen und die Hektik doch auf den Magen geschlagen sein, denn nach etwa einer Stunde plagen mich Bauchkrämpfe, und in meinem Inneren rumort es unangenehm. Wer sich vor Augen hält, dass in 3.000m Höhe nur noch etwa zwei Drittel des Luftdrucks auf Meereshöhe herrschen und wer die physikalischen Gesetzmäßigkeiten bezüglich Innen- und Außendruck kennt, weiß vielleicht, welche quälenden Phänomene ich hier beschreibe…

Egal – es muss weitergehen. Ich bitte zweimal um eine kurze Pause, aber dann stapfen wir kontinuierlich nach oben. Der Weg wird «schlechter», denn die aufsteigende Sonne blickt jetzt immer öfter durch die Wolkenfetzen und weicht den Schnee auf. Immer öfter quietscht es unter den Schuhen, allerdings kommen wir auch immer höher und gehen so dem Tauwetter voran.


[Teil 1]  [Teil 2]  [Teil 3]