Auf den Großvenediger - Teil 1

Jeder, der vom Großvenediger zurückkam, schwärmte mir etwas vor. Die meisten Stammgäste meines schönen Quartiers in Hinterbichl erzählten bewegt von der Besteigung des 3.674 m hohen Berges und dem überwältigenden Gipfelerlebnis. Doch ich oller Berggeher hatte mich dem immer entzogen. Mehrfach schon war ich zum Defreggerhaus hinaufgestiegen, hatte am Einstieg auch schon einmal vorsichtig einen Fuß auf den Gletscher gesetzt – aber immer wieder erschien mir dieser Weg auf den berühmten Gipfel zu «einfach». Außerdem schreckten mich die vielen, langen Karawanen ab, die immer dann vom Berg zurückkamen, wenn ich gerade das Defreggerhaus erreicht hatte. Also wiegelte ich alle Überzeugungsversuche jahrelang mit dem lapidaren Satz ab: «Den Großvenediger schenke ich mir zum 50. Geburtstag, dann geht das immer noch!» Eines schönen Sommers jedoch fühlte ich mich plötzlich verpflichtet, diese Bergfahrt verfrüht anzugehen, da zwei Arbeitskollegen und Freunde nach diesem Erlebnis hungerten. In einer schwachen Stunde muss ich das den beiden wohl versprochen haben. Dank über Jahre gewachsener guter Verbindungen waren Taxi, Hüttenplatz und Bergführer rasch gebucht.
Im Defreggerhaus

An einem leicht verhangenen Mittwochnachmittag schaukeln wir mit Friedl Kratzer im Hüttentaxi nach oben. Voll und stickig ist’s im Taxi, das bis an die Grenze der Belastbarkeit beladen ist. Die meisten schweigen und versuchen, durch die Scheiben einen Blick auf die Umgebung zu genießen. Nur Kollege Heinrich gibt sich dieser angenehmen Ruhe nicht hin, sondern liest im Zehnsekundenabstand die Zahlen von seinem nagelneuen, elektronischen Höhenmesser ab. Ob man nicht einen ganz großen vorn über der Frontscheibe anbringen könne, damit jeder gleich sieht, wie hoch … «Ich merke auch so, wenn ich an der Johannishütte bin!» bremse ich ihn schnell. Heinrich schweigt.

Nach einer guten halben Stunde Bandscheibenstrapaze quillt die Bergsteigerschar wenige Meter vor der Johannishütte aus dem Auto und gesellt sich zu anderen, die bereits warten. Einer der Venediger Bergführer liest von einem abgegriffenen Zettel Namen ab, schließlich muss er prüfen, ob seine Schäfchen auch alle angekommen sind. Mit aufgekratztem Geplapper stiefelt die auf mehr als 20 Personen angewachsene Schar über die ersten der etwa 800 Höhenmeter bis zum Defreggerhaus. Aber schon nach wenigen Minuten wird es stiller. Obwohl der leichtfüßig voranschreitende Bergführer sich offensichtlich Mühe gibt, das Tempo im Rahmen zu halten, will sich wohl keiner etwas vergeben – die Gruppe geht einen Tick zu schnell. Nach und nach fällt der Konvoi weiter auseinander. Auch ich ziehe mich ans Ende zurück, es hetzt mich ja nichts. Nach knapp zweieinhalb Stunden findet die Gruppe vor dem Defreggerhaus wieder zusammen. Schnaufend.

Doch zum Ausruhen bleibt keine Zeit, denn Schönwetter ist angesagt, und die Hütte wird bald überfüllt sein. Zwischen den überall herumstehenden Rucksäcken, neben denen Bergsteiger warten, schwirrt hektisch das Hüttenpersonal herum, um die Quartiere zuzuteilen. Da wir vorab reserviert haben, versuchen wir uns in stoischer Gelassenheit – was aber nicht verhindert, dass ich mir beim Rückzug in einen weniger belebten Teil des Ganges fürchterlich den Kopf an einem tiefliegenden Balken stoße. Urplötzlich stehen wir dann in einer engen Kammer, und kaum liegt unser ganzer Kram locker verteilt auf den schmalen und viel zu kurzen Betten, streben meine beiden Begleiter auch schon dem Abendessen zu.

Ich schließe die Tür ab, husche hinterher, ziehe an der bewussten Stelle vorsichtig den Kopf ein, merke mir noch schnell den Weg zur Toilette, wissend, dass es nachts sehr dunkel auf Hüttenfluren sein kann – und finde mich dann in der überfüllten und stickigen Gaststube ein.

Freund Bernd wird erst einmal an die Getränkeausgabe gestellt. Während dort die lange Schlange abgearbeitet wird, suchen Heinrich und ich nach dem jungen Paar, das mit uns aufgestiegen ist. Mit Müh‘ und Not findet sich eine Tischecke mit knappem Platz für drei Personen. Nach ein wenig Hin- und Hergerücke sitzt dann tatsächlich unsere Fünfergruppe beisammen. Bernd nähert sich mit Biergläsern im Arm. Endlich scheint ein wenig Ruhe einzukehren.

Aber die Bestellung des Abendbrots sorgt sofort wieder für Durcheinander. Die Bedienung fegt emsig zwischen den eng zusammenstehenden Tischen umher, und als sie sich zufällig unserem Platz nähert, winke ich und nehme unbesehen das Gericht, das sie gerade auf dem Tablett durch die Gegend trägt. «Hauptsache, Kalorien!» denke ich und stopfe Kartoffeln, Speck und Kraut in mich hinein. Mit einem Bier rutscht alles noch besser.

Die anderen beiden wählen den umständlichen Weg. Bernd weiß nicht, was er bestellen soll, und Heinrich hat beschlossen, vor seinem Abendbrot noch ein wenig an die frische Luft zu gehen. Als Bernd dann endlich doch noch zu seinem Abendessen kommt, stürmt Heinrich von draußen herein. Lautstark beschreibt er die großartige Landschaft – und wird erst leiser, als er feststellt, dass die Speisenauswahl mittlerweile deutlich reduziert ist. Aber auch er muss an diesem Abend nicht hungern, irgendetwas bekommt er dann doch noch. Nachdem alle gegessen und mit einem Obstler nachgespült haben, bin ich froh, das hektische und plappernde Volk erst einmal verlassen zu können. Entspannt genieße ich vor der Hütte das Einbrechen der Nacht. Nur kurz halten wir uns dann noch in der Gaststube auf. Heinrich schreibt einen denkwürdigen Eintrag in das ausliegende Gästebuch, irgendwie beglückt uns auch noch eine Runde Obstler. Dann ziehen wir uns in die Kammer zurück, gerade noch rechtzeitig, um dem Massenansturm auf Waschraum und Toilette zu entgehen.


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