Durchquerung der Lasörlinggruppe - Teil 2

Über die Rote Lenke ins Kleinbachtal

Ich gönne mir eine Dreiviertelstunde Rast, frage den Hüttenwirt noch einmal nach den Wegverhältnissen, trage meine Tour ins Hüttenbuch ein und schlendere dann gemütlich am Nordufer des Bödensees entlang Richtung Rote Lenke. Der unproblematische Weg gestattet ein paar Rundblicke über den Kessel hinter der Neuen Reichenberger Hütte. Die schieferartigen und mineralreichen Wände, die ihn nach Osten und Süden begrenzen, wirken düster, aber die Hütte glänzt über dem Farbenspiel des Sees in der Sonne. Schnell wird es mir wieder warm, und als ich eine Dreiviertelstunde später auf der rostigen Roten Lenke stehe, freue ich mich auf einen gemütlichen Abstieg in den oberen Talboden des Kleinbachtales.

Links steigt eine Gruppe von der Gösleswand, die von hier aus über einen verwachsenen Hang problemlos bezwungen werden kann. Schweren Herzens erspare ich mir diesen Gipfel heute – mein Weg ist einfach noch zu weit.

Nach einer kurzen Pause zum Filmen und Schauen drängt es mich weiter – und dann weiß ich genau, dass die Wegeinschätzungen der Einheimischen gelegentlich mit Skepsis betrachtet werden müssen. Ein Blick über das schattige, ins Kleinbachtal abfallende Kar zeigt üppige Altschneefelder. Miss­trauisch schaue ich nach Trittspuren, ziehe schon einmal die Gamaschen über und stecke die breiten Teller auf die Teleskopstöcke. Diverse graubraune Fäden auf den Schneefeldern deuten an, dass der Weg gangbar ist, aber ich habe etwas Zweifel wegen der fortgeschrittenen Tageszeit und vermute eher sulzige Verhältnisse. Schon nach wenigen Schritten auf dem ersten Schneefeld sacke ich bis an die Waden ein. Ich habe Mühe, anschließend wieder festen Stand auf der Oberfläche zu bekommen. Noch ein, zwei Proben, dann beschließe ich, den sulzigen Schnee möglichst zu umgehen.

Also stapfe ich etwas missgelaunt in kräftezehrendem Auf und Ab durch das lockere Geröll, um zumindest die größeren oder dickeren Schneefelder zu vermeiden. Wo mir der Umweg zu weit erscheint, quere ich aber doch lieber vorsichtig den Schnee. Ich gehe wie auf Eierschalen und versuche möglichst, mein Gewicht zu verteilen und wenigstens einen kleinen Teil der Last auf die lang ausgezogenen Stöcke zu drücken, die 30 bis 40 Zentimeter tief einsacken und dann erst Halt finden. Das Herauspulen der versackten Stöcke kostet Kraft und Geduld – die Zeit verrinnt. Als ich nach anderthalb Stunden endlich auf dem Kleinbachboden angekommen bin, erwäge ich ernsthaft einen verkürzenden Direktabstieg ins Virgental. Es ist jetzt drei Uhr nachmittags, über der durch das Tal sichtbaren Venedigergruppe hängen dünne Wolken, das dunkle Kar der Roten Lenke steht aber schon gegen einen stärker ergrauten Himmel.

Aus dem Tal herauf kommen mir schwerbeladene Hüttentourengeher entgegnen. Wir fangen sogleich das Fachsimpeln an. Auch sie haben Bedenken wegen des Wetters, und als ich ihnen die Wegverhältnisse zur Neuen Reichenberger Hütte schildere, werden ihre Mienen skeptisch, denn im Aufstieg sind diese Schneefelder deutlich schikanöser! Aber zurücksteigen wollen die beiden nicht. Nach kritischen Blicken auf unsere Höhenmesser sind wir uns einig: Der Luftdruck ist noch stabil, also müssen wir nicht unmittelbar mit einem Gewitter rechnen. Die Tourengeher machen sich auf den anstrengenden Zweieinhalb-Stunden-Weg – und ich mustere noch einmal prüfend den Steilaufstieg zur Michltalscharte. Ich beschließe, die Tour wie geplant weiterzuführen. Der nach Südwest gerichtete Hang unterhalb der Scharte liegt normalerweise in der Sonne und ist schneefrei.

Über die Michltalscharte ins Lasnitzental

Die Gesprächspause und ein bisschen Wegzehrung haben mich erfrischt, ich schnalle die nassen Gamaschen auf den Rucksack und marschiere langsam durch den matschigen Kleinbachboden los. Die ersten hundert Höhenmeter sind noch relativ gemütlich, aber nach der Abzweigstelle ins Tal strengen die restlichen 140 Höhenmeter noch einmal deftig an. Der ausgetretene Weg führt in steilem Zickzack am weichen, bewachsenen Hang empor und ist an den Spitzkehren oft derartig abgesackt und ausgespült, dass man nur mit sehr hohen und kräftezehrenden Tritten weiterkommt. Ich habe die Stöcke weggeschnallt und muss nun doch gelegentlich die Hände zu Hilfe nehmen, ein Ausgleiten hätte einen sehr unangenehmen Rutscher über den Steilhang zur Folge.

Halb fünf. Endlich auf dem höchsten Punkt dieser Tour. Die Michltalscharte in 2.652m Seehöhe ist so schmal, dass ich vorsichtshalber den abgelegten Rucksack mit einem Stück Reepschnur an den verfallenen Resten einer Ruhebank sichere. Die Aussicht ist beeindruckend: Gegen Osten schneidet das Tal des Lasnitzenbaches tief ein, an dessen Hang sich das dünne Band des Muhs-Panorama-Wegs entlang zieht. Aus dem Norden glänzt die wolkenverhangene Venedigergruppe, und im Südosten steht der dunkle Lasörling wie drohend vor dem grauer werdenden Himmel. Das Fernglas holt mir die zuvor getroffene Zweiergruppe heran. Ich sehe, wie sie sich noch immer durch die üblen Schneefelder zur Roten Lenke quält. Ich wünsche den beiden innerlich gutes Wetter, filme ein bisschen, stärke mich mit einem «Kreislaufobstler» und mache mich auf den Abstieg ins Lasnitzental.

Es geht zunächst kräftig hinab, aber ich bin ein sehr guter Bergabgeher, und so spüre ich noch nichts von Puddingknien oder zitternden Waden.

Der Weg ist zunächst zwar steinig, aber sehr gut gangbar. Erst nach den ersten hundert Höhenmetern erweist sich der Abstieg durch das Michltal als unangenehm. Die Trittspuren sind teilweise sehr tief bis auf das Gestein ausgewaschen und sehr holprig, so dass ich nicht so recht in meinen Bergab-Rhythmus komme. Jetzt wird es auch noch um den Lasörling herum immer dunkler, und ich bin ein wenig beunruhigt, denn bei einem Gewitter liefe ich auf diesem oberen Teil des Michltals wie auf einem Präsentierteller. Als schließlich die ersten Tropfen über den finsteren Kamm hereinwehen, beschleunige ich meinen Schritt und «hetze» mit äußerster Konzentration weiter. Erst als ich die Hochfläche verlassen habe und der Weg nun steil nach unten führt, lasse ich es wieder etwas gemächlicher angehen.

Das Wetter verzieht sich wieder, ich höre zwar leichtes Grummeln aus dem Defereggental jenseits des Lasörlingkammes, aber als ich nach etwa einer Stunde am Lasnitzenbach stehe, kommt passend noch einmal die Sonne hervor. Da ich jetzt nur noch etwa 2.000m hoch bin, wird es sofort sehr warm. Noch eine etwas windige Bachüberquerung auf einer Behelfsbrücke, schnaufend ein paar Schritte nach oben – dann rufe ich noch beim Ablegen dem Wirt auf der Terrasse der Lasnitzenhütte meine Getränkebestellung zu. Obwohl die Zeit schon fortgeschritten ist, gönne ich mir eine ausgiebige Rast, denn ich bin durstig und spüre meine Beine jetzt doch ein wenig. Das Radler, das der Wirt mir bringt, stürze ich gierig hinunter. Während ein kühles Weißbier auf mich wartet, schäle ich mich aus den verschwitzten Klamotten, lasse mich kurz in der Sonne trocknen und ziehe dann ein angenehm frisches T-Shirt an. Jetzt schmeckt das Bier!

Heimwärts…

Nach etwas mehr als einer halben Stunde regt sich langsam der Hunger, sicheres Zeichen, dass es an der Zeit ist, zum Abendessen nach Hinterbichl abzusteigen. Auf dem bequemen Fahrweg ins Virgental schalte ich alle Gedanken ab und verfalle in diesen nützlichen Trance-Zustand, der mich auf einfachen Rückwegen Kilometer und Zeit fressen lässt. Leider verpasse ich dabei den steilen Abkürzungsweg durch den Wald. Doch eine innere Warnglocke bremst mich noch rechtzeitig. Nur zweihundert Meter muss ich zurückgehen bis zum Abzweig nach Hinterbichl. Im Wald muss ich wegen meiner Körpergröße wieder aufpassen, nichts ist’s mehr mit tranceartigem Zuschreiten, viele schrägstehende Bäume überdachen den Weg genau in meiner Kopfhöhe.

Anmerkung
Mein etwas mulmiges Gefühl wegen des Wetters wurde gleich nach dem Abendessen eindrucksvoll bestätigt. Eines der schwersten Unwetter der letzten Jahre ließ in Hinterbichl die Keller volllaufen und alle Bäche zu reißenden Fluten werden…
 

Etwa eine Stunde nach meinem Aufbruch von der Lasnitzenalm passiere ich den Campingplatz in Hinterbichl, und als ich mich auf die vor dem Gästehaus stehende Bank fallen lasse, stürmt der Wirt aus dem Haus und bietet mir in weiser Voraussicht nicht den sonst üblichen Kaffee, sondern ein Weißbier an. Und dann muss ich den versammelten Hausgästen erzählen, wie ich von St.Jakob über die Neue Reichenberger Hütte, die Rote Lenke…

Und während ich erzähle, sehe und fühle ich noch einmal den Weg – etwa 20 Kilometer Hori­zon­talentfernung und über 10 Stunden auf den Beinen, das mache ich auch nicht jeden Tag…


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