Trockengelaufen - Am Wallhorntörl gescheitert

Wie konnte mir das nur passieren? Jetzt sitze ich auf einem kalten Stein, etwa eine Dreiviertelstunde vom Wallhorntörl entfernt – und komme nicht mehr weiter. Das darf doch nicht wahr sein! Strahlend blauer Himmel und die Vorfreude auf eine herrliche Venedigersicht! Aber ich pruste und schnaufe und habe ganz schlagartig keine Lust mehr. Ich glaube, ich kehre um…

Der Tag beginnt sehr normal und viel versprechend. Ich habe gut geschlafen, und der Vorabend zeigte sich weitaus weniger alkoholträchtig als die vielen anderen Abende, an denen eingefleischte Bergfexe im Gästehaus Conny zusammen sitzen. Vor wenigen Tagen ist die langanhaltende Hitzeperiode des Jahrhundertsommers 2003 zu Ende gegangen, ja es hat sogar ein wenig geschneit, und die klare, mitunter recht schneidige Luft verspricht einen schönen Bergsteigertag.

Aber obwohl ich schon über eine Woche in Hinterbichl weile, stecken mir irgendwie noch die stressigen Wochen im Büro in den Knochen. Eine merkwürdige Müdigkeit lähmt mich. Mangelnde Kondition ist es nicht – die Touren der Vortage habe ich mit demselben Gleichmut absolviert wie die Jahre zuvor. Ich bin einfach irgendwie schlapp…

Nach einem sehr gemütlichen Frühstück verfrachte ich leicht verspätet meinen Rucksack ins Auto und fahre zum Parkplatz Wallhorn, eine halbe Gehstunde unterhalb der Bodenalm. Nach dem Schnüren der Stiefel quäle ich mich wie immer über den Fahrweg nach oben – obwohl man sich hier sehr bequem einlaufen kann: ich liebe diesen so oft gegangenen Weg überhaupt nicht.

Der Steig zur Eisseehütte ist mir auch zuwider! Meine Abneigung begründet sich aus Erlebnissen anfangs der Neunzigerjahre, als ich mit einem fürchterlichen Hexenschuss praktisch ans Haus gefesselt war und als leichte Tour wenigstens mal kurz auf die Eisseehütte gehen wollte. Der ausgetretene, glitschige und holprige Steig bekam damals meinem Rücken nicht sehr gut – ich weiß nicht, wie oft ich seinerzeit auf einem Felsbrocken ausruhen musste.

Hinauf muss ich! Ich bin zum 25. Mal im Virgental und kenne das Wallhorntörl nicht! Aber den Normalweg zur Eisseehütte muss ich doch nicht gehen! Ich nehme den Umweg über das «Fenster» in Kauf, steige also aus dem Timmeltal erst einmal in Richtung Sajathütte und zweige dann in den Timmeltalhöhenweg ab, der ohne bedeutende Steigung an der Ostflanke der Sajatköpfe und der Kreuzspitze ins Talende führt.

In der Nähe des «Fensters» raste ich erst einmal. Ich sitze auf einem Felsen und registriere mit etwas Unmut, dass ein sehr schneidiger Wind aus dem Tal heraus bläst. Die Trinkflasche ist eiskalt und die Mini-Salami lässt sich kaum durchbeißen. Andererseits scheint aus Südosten die Sonne herein: es ist fast gemütlich hier…

Ich schlendere auf dem Höhenweg ins Timmeltal hinein, und mit jedem Meter wird der Wind schärfer und kälter. Nach einer halben Stunde muss ich tatsächlich meiner Zwiebelschalenbekleidung eine weitere Schicht hinzufügen, so «steif ist die Brise» – wie ein Bergfreund aus dem hohen Norden Deutschlands sagen würde.

Die Eisseehütte lasse ich rechterhand liegen – ich habe getrödelt, und langsam läuft mir die Zeit weg. Die flache Passage am Ende des Timmeltals scheint gemütlich, aber der Wind macht mich echt fertig, da er genau von vorne bläst und trotz aller meiner Bemühungen irgendwie immer ein Schlupfloch findet. Zuerst friere ich, dann zurre ich an meiner Jacke herum – mit dem Ergebnis, dass ich nun schwitze.

Ich mache noch einmal Rast, bevor es ziemlich steil nach oben geht. Jetzt noch 400 Höhenmeter, das heißt für mich normalerweise eine Stunde stramm steigen. So denke ich, aber bereits eine Viertelstunde später weiß ich, dass meine Rechnung nicht aufgeht. Es hat in der Nacht geschneit, und der normalerweise nicht sehr anspruchsvolle Steig versteckt sich unter einer bis zu 20 Zentimeter starken Schneedecke. Ich komme nur mühsam voran und orientiere mich dabei an relativ frischen Trittspuren, denn Wegmarkierungen sind nicht mehr zu sehen. Der scharfe Wind bläst zudem an vielen Stellen den lockeren Schnee wieder über die Spuren.

Ich treffe ein Paar, das etwas unschlüssig vor einer Geröllflanke steht. Der Steig ist jetzt nicht mehr zu erkennen. Ich werde angesprochen, zucke aber nur mit den Schultern. Keine Ahnung, wie es weiter geht, ich bin zum ersten Mal hier. Aber von oben werden gleich ein paar Leute kommen, und wenn wir auf die treffen, sind wir auf dem richtigen Weg.

Nach einem weiteren, kräftigen Schluck aus der Trinkflasche, die nun schon beängstigend leicht ist, stapfe ich etwas «angefressen» durch den tiefer werdenden Schnee weiter. Die beiden folgen mir, wir bilden nun unausgesprochen eine etwas frustrierte Dreierseilschaft.

In einer windgeschützten Mulde halte ich. Der Bart ist unter der Nase vereist, und das nervt mich! Nach stundenlangem, kalten Gegenwind brennen meine Augen, alles an und in mir ist ausgetrocknet, und ich muss unwillkürlich – auch wenn der Vergleich natürlich lächerlich ist – an Geschichten vom Höhenbergsteigen im Himalaya denken: die dünne, kalte Luft lässt den Körper austrocknen. Und meine Trinkflasche ist tatsächlich leer! Ich bin fast ein wenig bestürzt, denn selbst nach den schärfsten Tagestouren in sommerlicher Hitze habe ich normalerweise den letzten Schluck aus der Flasche nach der Ankunft am Auto oder in der Pension genommen! Natürlich gibt es da noch die eiserne Reserve im Bodenfach meines Rucksacks, aber die breche ich eigentlich nie an.

Meine Weggenossen kommen um die Ecke, sie sind etwas langsamer gestiegen als ich, machen dafür aber jetzt keine Pause sondern schlurfen stoisch an mir vorbei. Ich sehe ihren Gesichtern an, dass Weg und Wetter auch ihnen zugesetzt haben, und vielleicht befinden sie sich auch in jenem tranceartigen Zustand, den ich von langen Wegen kenne und der oft hilfreich sein kann. Aber nicht auf so einem Steig! Ich höre einen dumpfen Schlag und sehe aus den Augenwinkeln heraus, wie der Mann einen halben Purzelbaum schlägt und nun hinter einem halbmeterhohen Felsbrocken im Schnee liegt. Er hat den Brocken echt nicht gesehen, ist voll aufgelaufen und ziemlich heftig gestürzt. Aber es ist nichts passiert. Noch während seine Begleiterin und ich zu ihm hineilen, rappelt er sich auf, klopft sich den Schnee aus der Kleidung und betrachtet zugleich bestürzt und erstaunt den dunklen Felsen, der so mir-nichts-dir-nichts aufgetaucht ist.

Die Szene löst sich in einem befreiten Gelächter auf, die beiden steigen weiter. Sie brauchen meine Trittspur nun nicht mehr, das Wallhorntörl steht in Sichtweite vor einem strahlend blauen Himmel – verfehlen kann man es nicht mehr.

Und ich sitze wieder auf meinem Stein und schaue auf die Uhr. Ich rechne mir aus, dass ich nicht vor 15:30 Uhr auf dem Törl sein werde. Mein Getränkevorrat ist erschöpft, von vorn bläst nun auch wieder der kalte Wind herein, ich denke an den langen Rückweg, den ich ja auch noch bewältigen muss. Während die Kälte langsam durch die Alusitzmatte kriecht, machen sich Bedürfnisse bemerkbar, die so überhaupt nicht bergsteigertypisch sind. Wie schön wäre es, bald unter eine heiße Dusche zu kommen, und wie schön, wenn ich früh am Abend für eine kräftige Mahlzeit zum Islitzer käme…

Abrupt stehe ich auf, verstaue meine Sachen im Rucksack, reiße meinen sehnsüchtigen Blick vom Wallhorntörl los und beginne leicht missmutig den langen Rückmarsch. Und ich bin so wütend, dass ich trotz meines brennenden Durstes die Eisseehütte ignoriere und auch – was mir sehr selten passiert – die sonnige Terrasse auf der Bodenalm verschmähe. Ohne Pause marschiere ich bis zum Parkplatz, und erst im Auto kann ich mich dann wieder freuen – auf den nächsten Versuch…

Anmerkung: Im darauffolgenden Jahr hat’s dann aber problemlos geklappt…