Vor Jahren ließ ich – nachdem ich halbwegs anständig den Großvenediger bezwungen hatte – ganz unvorsichtig die Bemerkung fallen, den Großglockner schenkte ich mir dann zum 50. Geburtstag… Und darauf wurde ich dann festgenagelt! Schon in 2000 hatten meine Freunde Ulla und Markus beschlossen, dass ich mich dieser Selbstverpflichtung nicht entziehen könnte! Ende Juli 2001 musste ich dann ‚ran! Die nachstehenden Eindrücke sind direkt nach der Rückkehr in die Pension entstanden und nicht wesentlich korrigiert worden.
Am 30. Juli 2001 stieg ich zusammen mit meinen Bergfreunden Ulla und Markus nachmittags zur Stüdlhütte auf. Wir parkten am Lucknerhaus am Ende der Kalser Glocknerstraße und gingen relativ zügig in ca. 2,5 Stunden zur Hütte, die nach mehreren Windungen eines holperigen Felssteigs unvermittelt links auftauchte.
Die relativ neue Hütte ist ein von vielen abgelehnter, moderner Zweckbau, der aber aber ästhetisch nicht uninteressant ist.
«Natürlich» hat die Lagerreservierung nicht geklappt, obwohl unser Bergführer Sigi uns hochheilig versicherte, dass drei Plätze bestellt worden seien. Nach einigem Hin- und Her bekamen wir drei Lager und hatten noch Glück, denn wenige Augenblicke später war alles besetzt und abends stellten wir fest, dass sogar Notlager aufgeschlagen werden mussten.
Lange, gemütliche Zeit vor der Stüdlhütte – obwohl es am Abend doch recht frisch wurde, aber vielleicht ist auch nur einfach der Kreislauf ein bisschen abgesackt.
Im Speiseraum ging es dann hoch her, wie üblich gab es ein leichtes Durcheinander bei der Essensausgabe. Es gelang dann doch, ein «hervorragendes» Currygeschnetzeltes zu erhalten, von dem aber auch der Bergführer Sigi meinte, der Reis habe das Wasser zu lange gesehen und sehe aus wie Kartoffelpüree…
Gegen 21:45 bezogen wir das Lager. Die Ausstattung war relativ neu und die Matratzen auch bequem, aber irgendwie scheinen die Architekten solcher Hütten keine besonderen Freunde guter Durchlüftung zu sein… Oder es gibt Bergsteiger, die sich in der Nähe des Fensters vor Zug fürchten und den Mief der Versammelten als angenehm empfinden?
Jedenfalls war es sehr, sehr heiß im Schlafraum, und jede Decke, fast schon der dünne Schlafsack waren zuviel.
Dementsprechend war die Nacht! Kaum geschlafen und eher unruhig auf dem Lager herumgewälzt. Zwischendurch wohl auch ein halbes Stündchen geschlafen. Das Ende der Nacht schließlich sehnsüchtig abgewartet, aber die letzten Stunden wollten einfach nicht vergehen…
Um 4:45 piepste die Uhr – und fast plötzlich hörte das allgemeine Schnarchen auf. Ein wildes Umhergeschwenke von Stirn- und Taschenlampen. Zusammensuchen von Habseligkeiten.
Müdes Anstehen im Speiseraum. Die Luft ist schlecht und riecht nach Schweißsocken und würzigen T-Shirts. Ein matter Kaffee und zwei Scheiben des pappigen Brotes müssen reichen.
Im Morgengrauen machen wir uns fertig. Der Rucksack ist – soweit möglich – bereits am Abend gepackt worden, jetzt geht es noch darum, den Getränkevorrat zu überprüfen und die Ausrüstung zu checken. Die Gurte werden angelegt, dann geht es in angenehm frischer Luft los.
Nach wenigen Augenblicken beginnt die Überschreitung des ersten Gletschers. Der Schnee ist noch gefroren und trittfest, ohne Steigeisen gut zu begehen. Gemütlichen Schrittes stapfen wir über das Ködnitzkees zum Aufschwung auf die Adlersruhe. Durch den Felsen geht es, klettersteigähnlich gesichert. Hier wird es zum ersten Mal richtig anstrengend und weil wir die ersten eineinhalb Stunden für meine Verhältnisse etwas zu schnell gegangen sind oder jetzt vielleicht auch die Höhe zuschlägt, kommen mir zum ersten Mal Zweifel, ob ich diesen Berg tatsächlich packen werde. Jedenfalls schaffe ich den letzten Aufschwung zur Hütte nur mit Müh und Not und lasse mich völlig ausgepumpt auf ein Sitzbrett an der Hüttenwand fallen.
Nach einigen Minuten geht es mir aber besser und ich kann zum ersten Mal ein postkartenähnliches Panorama genießen. Schon jetzt – in 3400 m Höhe – liegt fast alles weit unten und blickt man über Bergketten hinweg um weitere Bergketten zu sehen, über die man hinweg blicken kann… Der Hang zum Großglockner wirkt jetzt nicht mehr so erschreckend, aber als ich den Steilhang des Glocknerleitls sehe, wird mir im Voraus schon schlecht.
Nach einer nicht allzu langen Pause brechen wir wieder auf, die Steigeisen an den Füßen. Zum ersten Mal habe ich die Dinger unter den Stiefeln, aber ich bin erstaunt, wie problemlos das Gehen ist, nur einmal hake ich mit einer Spitze im eigenen Schuh ein, ansonsten geht es ganz gut.
Zum Leitl geht es zunächst relativ gemütlich, aber die Höhe und die bezwungenen Meter der letzten Stunden machen sich in meinen Beinen bemerkbar. Es wird immer schwerer und immer öfter muss ich um eine kleine Pause bitten. Als es richtig steil wird, werden die Zweifel immer stärker, aber Ulla, Markus und Sigi motivieren mich. Irgendwie quäle ich mich das steile Firnfeld empor und dann stehen wir vor dem Felsaufschwung zum Kleinglockner.
Wir lassen die Steigeisen an, was ich angesichts des griffigen Felsens etwas merkwürdig finde. Dementsprechend unangenehm ist die Kletterei. Wo normalerweise eine feste Stiefelsohle gut Halt fände, kratzen jetzt die Zacken der Eisen etwas unkoordiniert umher.
Es ist sehr anstrengend, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mir die Luft ausgeht, sondern vermute eher, dass mir ein wenig die Kraft fehlt, mich «stundenlang» hochzustemmen. Die Steigeisen tun noch einmal ihre Pflicht, als der sehr dünne Wächtenbereich am Kleinglockner überschritten wird. Links und rechts geht es irrsinnig tief hinunter, aber obwohl ich mir redliche Mühe gebe, vor Ehrfurcht zu erschauern, macht der Abgrund mir nichts aus!
Die Steigeisen kommen von den Füßen und jetzt heißt es erst einmal warten, denn wie schon befürchtet, ist dieser Berg noch immer überfüllt. Die Frühaufsteher, die von Adlersruh gekommen sind, sind zwar zu einem Großteil bereits aus den engen Passagen abgestiegen, aber noch immer hängen einige Dutzend Seilschaften gleichmäßig über die Felsen verteilt herum. Sigi beschließt, eine gewisse Zeit zu warten, da der Schlussanstieg zum Glocknergipfel im Augenblick zu gefährlich sei. Die Leute stehen sich eher im Weg herum, als dass sie zielgerichtet klettern.
Einige Seilschaften verfügen wohl nicht über die Erfahrung und Professionalität, die hier am Platz wäre. Da werden ganze Vierzigmeterseile ausgebracht, an denen dann mal vier Mann hängen, andere stehen auf guten Tritten und trauen sich davon nicht mehr herunter. Zwei Bergsteiger des österreichischen Bundesheeres, die wir schon auf dem Anstieg zur Hütte und abends auf der Hütte selbst getroffen haben, helfen aus, sichern mit zusätzlichen Seilen und versuchen die ängstlichen aus ihren Lagen zu befreien. Teilweise ähnelt die Szenerie einer breit angelegten Katastrophenübung.
Ulla mault. Sie ist das Warten leid und würde am liebsten umkehren, statt womöglich noch stundenlang auf den Gipfelsieg zu warten. Markus und ich reden ihr zu: keinesfalls wollen wir eine halbe Stunde vor dem Gipfel die Flinte ins Korn werfen. Mich würde es besonders hart treffen, da ich mich ja nun wirklich bis zu dieser Stelle hochgequält habe!
Auch Sigi wird etwas unruhig, denn wenn wir jetzt noch lange zuwarten, begegnen uns womöglich schon die Bergsteiger, die über den Stüdlgrat gegangen sind und den Normalweg zum Abstieg benutzen. Mehrfach schaut er auf die Uhr, und beschließt dann bei einer günstigen Gelegenheit, ein wenig die Initiative zu ergreifen. Geschwind und leichtfüßig überwindet er das Glocknerschartl und baut sich drüben einen sicheren Standplatz. Dann dirigiert er mehrere Bergsteiger nach links und rechts, hilft beim Sichern und sorgt so langsam dafür, dass ein wenig Ordnung in das Bergsteigerchaos kommt.
Wenige Minuten später beginnen wir die letzte Etappe. Ulla überschreitet den schmalen Grat, der zwischen Klein- und Großglockner in einer Schartensenke liegt. Markus steigt langsam nach unten und hält sich an dem Fixseil fest. Plötzlich Schrei und Aufregung. Eines der lang gespannten Seile wird von irgendjemanden unkontrolliert bewegt und wischt an Markus‘ Kopf vorbei. Er gerät leicht aus dem Gleichgewicht und balanciert für eine Schrecksekunde lang gefährlich über den tausend Meter Abgrund. Mit der Rechten hält er aber das Stahlseil ganz fest – und passieren könnte wohl nicht viel, denn Sigi strahlt an seinem Standplatz eine eherne Ruhe aus. Trotzdem wäre es nicht ohne Blessuren und Schrammen ausgegangen, wäre er hier ins Seil gestürzt. Ulla ist wohl noch erschrockener als Markus, aber nach wenigen Augenblicken ist die Aufregung vorbei.
Jetzt komme ich an die Reihe. Ein paar Schritte bin ich schon abgestiegen, als ich merke, dass zwischen den gut gestuften Tritten Blankeis liegt. Und die Steigeisen haben wir abgelegt! Ganz, ganz vorsichtig taste ich mich nach unten, die Rechte fast krampfhaft um das Stahlseil geklammert. Von drüben muntert mich Sigi auf und erstaunlicherweise habe ich überhaupt keine Angst, als ich auf eher wackligen Beinen auf die Scharte trete.
Ein paar kurze Blicke nach links und rechts gönne ich mir: es geht wirklich bodenlos in die Tiefe, keine Ahnung, wie viele Meter Luft da unter mir liegen!
Viel Zeit zum Schauen ist nicht: Sigi drängt ein wenig, denn wir müssen nun wirklich auf den Gipfel.
Es sind nur noch ein paar Meter steil durch den Felsen, die ich – das Gipfelkreuz vor Augen – jetzt relativ problemlos meistere. Und dann sitze ich auf Österreichs höchstem Punkt und kann nur schauen, schauen – ich bin so in dieses überwältigende Panorama vertieft, dass ich das Filmen und Fotografieren vergesse. Ich habe wirklich ein paar Tränen in den Augen, denn zwischenzeitlich hat es ja so ausgesehen, als würde ich schlapp machen. Aber ich hab’s geschafft – mein eigenes Geschenk zum 50. Geburtstag…